Altes Handwerk Der Glockengießer von Mullberg

Nicole Böning
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Von Nicole Böning
| 07.12.2023 19:18 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 7 Minuten
Eike Scherler mit der Zwischenberger Glocke. Vom Publikum auf dem Weihnachtsmarkt bekam er dafür viel Applaus. Foto: Böning
Eike Scherler mit der Zwischenberger Glocke. Vom Publikum auf dem Weihnachtsmarkt bekam er dafür viel Applaus. Foto: Böning
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Eike Scherler hat ein besonderes Hobby. Der 33-Jährige aus Mullberg gießt Glocken und hält damit ein alten Handwerk am Leben. Kommt so auch Zwischenbergen zu einer eigenen Glocke?

Zwischenbergen - Es ist bereits dunkel auf dem Zwischenberger Weihnachtsmarkt. Die Temperatur liegt unter dem Gefrierpunkt, und vereinzelt taumeln zierliche Schneeflocken vom Himmel. Rund um Eike Scherler ist die Luft trotzdem warm. Das liegt an dem Metallofen, in dem eine rauschende Gasflamme Bruchstücke aus Bronze in einem Tiegel schmilzt und auf etwa 1100 Grad Celsius erhitzt. 30 Kilogramm Schmelze braucht der Mullberger für die kleine Glocke, die er an diesem Tag gießen möchte. Live. Vor Publikum. In einem magischen Grün züngeln die Flammen durch die Ofenöffnungen und erhellen die Gesichter der Zuschauer.

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Zwischenbergen: Eike Scherler gießt Bronzeglocke
07.12.2023

„Beim Kunden gießen“, nennt es Scherler, wenn er vor Publikum arbeitet. Zwar ist die Dorfgemeinschaft Zwischenbergen noch kein Kunde und die Glocke ein Probestück, das Scherler für einen potenziellen Auftrag im nächsten Jahr herstellt, aber das spielt für ihn keine Rolle. Wenn er etwas macht, macht er es richtig. Deshalb wartet in der Glockenform gepresster Sand mit fein gearbeiteten Verzierung darauf, der noch flüssigen Bronze eine Form zu geben. Darauf wird ein Auszug aus dem Gedicht „Die Glocke“ von Friedrich Schiller zu lesen sein, das Datum des Gusses, Scherlers Name und der Ort – Zwischenbergen.

Jeder Buchstabe ist ein Unikat

Wie bei einem Auftrag ist jeder einzelne Buchstabe mit der Hand aus Wachs geschnitten und ein Unikat. Das gilt auch für die Verzierungen und das Heiligenbild. So arbeitet Scherler. Jede Glocke, die er herstellt, gießt er nicht nur für den Kunden, sondern auch für sich selbst. Eine Glocke ist für ihn ein Kunstwerk. Scherler ist kein Glockengießer wie jeder andere. Für den gelernten Zerspanungstechniker ist Glockengießen noch ein Hobby, auch wenn er die Metallmanufaktur Nordschmiede nebenberuflich betreibt und bei der Handwerkskammer angemeldet hat.

Jeder Buchstabe auf seinen Glocken ist Handarbeit und ein Unikat. Foto: Ortgies
Jeder Buchstabe auf seinen Glocken ist Handarbeit und ein Unikat. Foto: Ortgies

Zum Außer-Haus-Gießen hat Scherler einen selbst gezimmerten Unterstand mitgebracht. An einem Balken hängt eine kleine Lampe mit einem Teelicht. „Das gehört beim Glockengießen zum Ritual“, erklärt er. Zweimal hatte er die Kerzen beim Gießen vergessen. Zweimal ging der Guss schief. Ausgerechnet dann. Seitdem brennt die Kerze immer. Vorsichtshalber. Auf dem Ofen ist mit Kreide ein Kreuz gemalt, auch das gehört dazu.

Zum Glockengießer im Selbststudium

Wie er auf dieses besondere Hobby gekommen ist? „Ganz ehrlich, ich weiß es nicht mehr“, antwortet Eike Scherler und grinst. Dann überlegt er kurz. Als Kind hat er eine kleine Glocke von seinem Opa bekommen, vielleicht war sie der Auslöser. Oder die frühe Faszination des gebürtigen Esensers für das Turmmuseum seiner Heimatstadt. Eine Zeit lang hat er dort ehrenamtlich gearbeitet. Auf der Höhe der Glocken kann man vom Turm bis zu den Ostfriesischen Inseln schauen. Eike Scherler hatte eher Augen für die Glocken. Er wollte lernen, wie sie hergestellt werden.

Die Vorlage für das Heiligenbild hat Eike Scherler selbst in eine Gipsform geritzt. Es wird mit Formwachs auf die falsche Glocke übertragen. Foto: Ortgies
Die Vorlage für das Heiligenbild hat Eike Scherler selbst in eine Gipsform geritzt. Es wird mit Formwachs auf die falsche Glocke übertragen. Foto: Ortgies

„Es war nicht möglich, eine Glockengießer-Werkstatt zu finden, die bereit war, ihr Wissen zu teilen“, erinnert sich Scherler an seine Versuche, Quellen für das notwendige Fachwissen zu finden. Also las er Bücher, probierte aus, scheiterte manchmal, lernte aus Fehlern – bis er durch einen Auftrag bei einem Glockensammler in Süddeutschland den Glockengießer Simon Laudy aus den Niederlanden kennenlernte. Scherler suchte einen Lehrmeister, Laudy jemanden, dem er sein Wissen weitergeben kann.

Einen Lehrmeister gefunden

Eike Scherler kann sich gut vorstellen, einmal in Laudys Fußstapfen zu treten. Das Glockengießen zu seinem Beruf zu machen – darauf arbeitet er hin. Inzwischen arbeitet er oft einen Tag in der Woche in den Niederlanden, hilft Simon Laudy bei seinen Aufträgen und kann dort auch eigene Projekte gießen. Vor allem die großen, für die seine eigene Werkstatt noch nicht ausgerüstet ist. Wie die beiden Glocken für die Hochzeitskapelle in Middels – hinter dem Landgasthof Alte Post. 140 Kilogramm wiegt die größere.

Das bleibt vom Formsand nach dem Gießen übrig. Foto: Ortgies
Das bleibt vom Formsand nach dem Gießen übrig. Foto: Ortgies

Simon Laudy gießt seit mehr als 45 Jahren Glocken und Glockenspiele. Letztere sind für Scherler die Königsdisziplin. „So weit bin ich noch nicht“, gibt er zu. Glockenspiele sind eine Präzisionsarbeit, der Klang muss exakt stimmen. Bei Kirchturmglocken ist das anders: „Läuteglocken sind keine Präzisionsinstrumente“, sagt Eike Scherler. „Bei ihnen kommt es eher auf einen besonderen Klang und den Wiedererkennungswert an.“

Glockengießen ist ein gewichtiges Hobby

Der 33-Jährige greift nach einem langen Metallstab und beginnt, die Schmelze zu rühren. Ob die richtige Temperatur erreicht ist, sieht Scherler daran, wie hell der Stab glüht, wenn er ihn wieder herauszieht. „Dafür brauche ich kein Thermometer“, sagt er und grinst. Scherler weiß, was er tut. Er nickt zu Heiko Eden. Sein Nachbar steht in schwerer Lederschürze, mit dicken, feuerfesten Handschuhen und mit Gesichtsschutz bereit, um beim Guss zu helfen. Ohne Hilfe geht es nicht. Auch wenn die Glocke mit einem Durchmesser von 33 Zentimetern eher klein ist. Bronze ist schwer. Ein Liter Bronze wiegt neunmal so viel wie ein Liter Milch.

Der 33-Jährige in seiner neuen Werkstatt in Mullberg. Die richtet er so ein, dass er hier auch große Kirchenglocken gießen kann. Foto: Ortgies
Der 33-Jährige in seiner neuen Werkstatt in Mullberg. Die richtet er so ein, dass er hier auch große Kirchenglocken gießen kann. Foto: Ortgies

Tiegelring und Tiegelzange, die Werkzeuge, die Scherler und Eden nutzen, sind selbst gebaut – wie vieles in Scherlers Werkstatt. „Wenn ich das alles fertig kaufen würde, wäre es unbezahlbar“, sagt er. Vorsichtig, aber zügig heben die Männer den glühenden Tiegel aus dem Brennofen und gießen die vor Hitze goldrot leuchtende Bronze in die Form. Es geht schnell. Ein paar Minuten entscheiden darüber, ob Wochen der Vorbereitung erfolgreich waren. Die Berechnungen, der Bau der „falschen Glocke“ aus Formwachs, mit der die Gussform hergestellt wird, die Verzierungen, der Formenbau. Am Anguss leuchtet das langsam abkühlende Material noch lange nach. Scherler ist zufrieden. Es gab kein brutzelndes Geräusch von verdunstender Feuchtigkeit, die Schmelze schlug keine Blasen.

Niemand schläft gut vor dem Entformen

„Es ist alles, wie es sein sollte. Eike kann also heute Nacht gut schlafen“, sagt Simon Laudy, der extra aus den Niederlanden zum Guss nach Zwischenbergen gekommen ist. Er weiß selbst, dass kein Glockengießer in der Nacht vor dem Auspacken einer Glocke gut schläft. Erst wenn die Form heruntergeschlagen ist, gibt es Gewissheit, ob ein Projekt gelungen ist. Bei Kirchenglocken passiert das oft im Beisein eines Glocken-Sachverständigen, der das Kunstwerk aus Bronze hochoffiziell prüft. Die Glocke in Zwischenbergen vor Publikum aus der Form zu holen ist für Eike Scherler ähnlich aufregend.

Als die Zwischenberger Glocke am nächsten Tag fertig und grob gebürstet auf dem Weihnachtsmarkt hängt, kann Scherler aufatmen. „Das muss mir erst einmal jemand nachmachen“, sagt er stolz. Seine Augen leuchten wie die eines Kindes vor dem Weihnachtsbaum. In der Werkstatt wird er sein Werk später gründlich mit einer Drahtbürste reinigen und die untere scharfe Kante nacharbeiten. Mehr muss er nicht tun, wenn er exakt arbeitet. Es folgen die Tonwertberechnungen, die er benötigt, um die Glocke zu planen, für die er dieses Modell hergestellt hat. Eine 800-Kilogramm-Glocke. Sein neuestes Werk ist für Scherler ein Novum. Es ist die erste Barock-Glocke, die er gegossen hat. Bei einer neuen Glockenform braucht es ein Muster, um die richtige Tonhöhe für den Auftrag zu berechnen. Die Zwischenberger Glocke hat den Zwischenton „Es“ in der dritten Oktave. Damit kann Scherler arbeiten.

Was im Anschluss mit der Glocke passiert, nachdem sie ihren handgeschmiedeten Klöppel erhalten hat, weiß der Mullberger noch nicht. Der Vorsitzende der Zwischenberger Dorfgemeinschaft, Friedhelm Jelken, aber überlegt: Reicht die Glocke aus, um die Einwohner Zwischenbergens zusammenzuläuten? Wie könnte der Glockenturm aussehen, an dem die Glocke dafür hängt? Die Fragen kann Eike Scherler beantworten. Sein Hobby hat ihn nicht nur zum Glockengießer, Formenbauer, Metallbauer und Künstler gemacht, sondern auch zum Tischler. Inzwischen baut er auch Glockenstühle und montiert die ganze Elektronik, um seine Werke automatisch erklingen zu lassen. Wer weiß, wohin ihn sein „Hobby“ noch führt.

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